Auszüge aus einem Interview mit der Zeitschrift Lichtfokus 2011


Der Feldenkrais-Lehrer Jörg Bränzel aus Berlin gab im Herbst 2010 einen viertägigen Feldenkrais-Kurs hier im Haus Alpenlicht. An einigen der Sessions nahm ich teil, einerseits weil ich selbst diese Methode kennenlernen wollte, andererseits weil ich seit Jahren Schmerzen im unteren Lendenwirbelbereich (Bandscheibenvorfall) habe. Ich kann für mich feststellen, dass es meinem Rücken sehr guttat, ich bin nun fast schmerzfrei. Heilung lässt sich vermutlich nie auf nur eine bestimmte Methode zurückführen, aber der richtige Impuls zur richtigen Zeit kann viel bewirken! Mit diesem Interview welches ich via E-Mail mit Jörg führte, soll die Feldenkrais-Thematik vertieft werden und für die Leserschaft erfahrbar werden. Herbert Reinig.

Nachteilige Bewegungsmuster sollen gelöst und neue Bewegungsalternativen aufgezeigt werden. Was sind denn nachteilige Bewegungsmuster, wie entstehen diese? Und wie kommt es zu den Bewegungsalternativen?

Wenn wir im folgenden über nachteilige Bewegungsmuster sprechen, dann können wir uns als Beispiel für die Entstehung solcher Phänomene einen Menschen vorstellen, der auf den ersten Blick keine körperlichen Einschränkungen hat, der aber trotzdem ganz offensichtlich Schwierigkeiten damit hat, bestimmte Bewegungen auszuführen und der sich, um diese ausführen zu können, sehr anstrengen muss. Der Nachteil für ihn besteht ganz einfach darin, dass er nicht die Idee hat, wie er sichs leichter einrichten könnte. Er hat vielleicht über einen längeren Zeitraum, wiederkehrend in seiner Entwicklung, für ihn schlimme Erfahrungen machen müssen, in deren Folge er sich keine andere Lösung wusste als vorsichtig zu werden, was sich dann wiederum in seinen Bewegungen spiegelte. Das veränderte seinen Gang, der nun weniger spontan wirkte, seine Körperhaltung, die eine ständige Anspannung verriet und natürlich veränderten diese Erfahrungen auch sein gesamtes Lebensgefühl, sodass er das Anstrengende beim Bewegen langsam als normal für sich akzeptiert hatte, und seitdem gehört es zu seinem Erleben dazu.
Wenn dieser Mensch nun das Glück hat, dass ihm die Erinnerung an die Zeit, zu der er sich aufrecht fühlte und frei beweglich, noch bewusst ist, dann mag es sein, das er im Stillen andere Menschen wegen ihrer lockeren Bewegungen bewundert, vielleicht beobachtet er auch gern tanzende Menschen oder Sportler. Er wird auf diese Art und Weise im Alltag immer wieder mit dem Thema konfrontiert und so kommt eins zum anderen und irgendwann sieht man ihn vielleicht mit einem Buch in der Hand sitzen und lesen und dieses Buch handelt von nichts anderem als vom leichten Bewegen.
Dieses Beispiel erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und ich beschreibe es nur, um zu verdeutlichen, dass eine Bereitschaft zum Umdenken und aus dem eigenen Innern kommende Impulse nötig sind, bevor man sich auf die Suche nach Alternativen zu den schwerfälligen Bewegungen und den vertrauten Schmerzen machen wird.
Diese Alternativen können in dem Moment entstehen, wo der Mensch verstanden hat, dass sein bisheriges Verhalten ihn unfrei gemacht hat, wenn der Leidensdruck so groß wird, dass er eine Lösung braucht. Sie entstehen durch Erkennen der Umstände, welche zu dem jetzigen Zustand geführt haben und durch den Wunsch ein besseres Leben führen zu wollen, durch das Erlernen und Verstehen von Bewegungen, welche den ganzen Menschen mit einbeziehen.
Hierbei handelt es sich um einen Prozess, der sich über einen langen Zeitraum erstrecken und letztlich dazu führen kann, dass der Mensch sich mit seiner ganzen Geschichte annimmt und aus dem Gefühl der Liebe zu sich selbst und dem Wunsch nach mehr Glück mit dem Lernen beginnt, und sich auf die Suche nach dem macht, was ihm verlorengegangen ist.

Es soll eine neue Beweglichkeit in Körper und Geist entstehen, magst du dies bitte erläutern? Ein Stichwort von dir lautet in dem Zusammenhang „das veränderte Selbstbild“, was meinst du damit?

Begriffe wie Starre, Verkrampftheit, Blockierung, Gehemmtheit, benutzen wir, wenn wir einen Zustand beschreiben wollen, der von Angst geprägt ist und der im vollkommenen Gegensatz zu dem steht, was wir empfinden, wenn wir beispielsweise froh und ausgelassen tanzen. Jeder weiß, dass es sich nicht gut anfühlt, wenn man in einer Situation zum Tanzen aufgefordert wird, in der man sich unsicher fühlt. Aber ist es nicht so, dass wir im Alltag ganz freiwillig immer wieder in Situationen gehen, in denen wir spüren, dass wir entgegen unserem Gefühl etwas zulassen, wovon wir merken können, dass es nicht gut für uns ist, einer Gewohnheit folgend und wohl wissend, dass wir uns unter anderen Bedingungen besser fühlen würden?
Die Auswirkungen des Bildes, welches wir uns im Laufe des Erwachsenwerdens und fortlaufend weiter von uns, und damit auch von unseren Fähigkeiten und Möglichkeiten gemacht haben, sind sehr eindrucksvoll und nur zu verstehen, wenn man sie im Zusammenhang mit den dazugehörenden Erlebnissen betrachtet. Es kann sein, dass da jemand ist, der in wirtschaftlicher Hinsicht alle Voraussetzungen hat, ein gutes Leben zu führen, der sich etwaige Annehmlichkeiten aber nicht gestatten wird und sich Freuden versagt, wo immer es geht. Sein Bild von sich selbst sieht so aus, dass er sich schuldig fühlte, wann immer er großzügig mit sich umging.Wenn jemand immer wieder hört, dass er unbescheiden ist, dann glaubt er es irgendwann, und um der Liebe willen, auf die er als Kind angewiesen ist, wird er sich anpassen und sich die Bescheidenheit zum Zwang machen.
Nur dadurch, dass er an einem gewissen Punkt angekommen war, von dem an er begonnen hat seine Geschichte ernst zu nehmen und zu erkennen, welche Gründe zu seiner Einstellung geführt hatten konnte sich sein Selbstbild verändern und ihm boten sich plötzlich ungeahnte Möglichkeiten, die er eigentlich schon sehr lange gehabt hatte, die er aber bis dahin nicht für sich erkennen konnte.
Das macht das Selbstbild. Es ist in der Lage tiefgreifende Veränderungen in Gang zu setzen, überall wo wir es uns wünschen. Bezogen auf das körperliche Selbstbild können diese Veränderungen dazu führen, längst verloren geglaubte Freuden der Beweglichkeit wieder erlebbar zu machen.
Ein kleiner Anfang in diese Richtung kann bei jeder Stunde Bewusstheit durch Bewegung erlebt werden, wenn das Bild, welches wir uns am Anfang der Stunde von unserem Körper gemacht haben, sich am Ende etwas durcheinanderwürfelt und immer überraschend anders ist.
Den Bezug zu den Veränderungen, welche dann auch auf der geistigen Ebene folgen können, darf man sich so vorstellen, dass es ja zu jeder Bewegung im Körper eine entsprechende Rückmeldung zum Gehirn gibt, eine Art Lagebericht. Verändert sich dieser Lagebericht nun mehr und mehr in die Richtung, dass Bereiche des Körpers ganz offensichtlich und spürbar als beweglicher empfunden werden und die Rückmeldungen zudem auch entspannter sind, dann sieht das Gehirn neue Dimensionen der Bewegungsmöglichkeiten, welche nun ausgeführt werden können.
Da wir den Körper und die Prozesse, die dort ablaufen nicht von den Bewegungen auf geistiger Ebene trennen können ist davon auszugehen, dass es auch dort nach und nach zu Entwicklungen kommen wird.
Eine neue Beweglichkeit ist entstanden, wenn wir Alternativen gefunden haben, geistig in Form von neuen Gedanken, welche zum Erleben der Freiheit führen, körperlich in Form von freien Bewegungen. Dort angekommen wird das Bild, das wir von uns selbst haben umfassender sein, es wird zudem mehr Möglichkeiten der eigenen Entwicklung zulassen.
Beweglich - sein bedeutet aber eben auch, dass dies kein unveränderlicher Zustand ist und wir nach wie vor als Menschen in einem Spannungsfeld leben, zu welchem ein Auf und Ab der Stimmungen und Zeiten der Höhen und Zeiten der Tiefen gehören. Damit umzugehen und klarzukommen wird auch weiterhin ein wichtiges und im wahrsten Sinne des Wortes spannendes Unterfangen bleiben.

Hältst du es für möglich, dass es zu Umprogrammierungen kommt im Gehirn und was ist dazu wichtig? Sind es die Wiederholungen, die Absicht oder...

Ich halte diese Umprogrammierungen, von denen du sprichst, nicht nur für möglich sondern ich erlebe sie an Menschen, denen ich bei meiner Arbeit begegne, immer wieder sehr eindrucksvoll. Es ist dieses Aha - Erlebnis, die Erkenntnis, dass es immer wieder neue Sichtweisen und Möglichkeiten der Wahrnehmung gibt und dann auch immer wieder die Frage: warum nur hab ich es mir so lange so schwer gemacht?
So wie wir es uns nicht unnötig schwer machen sollten und das Gefühl der Schwere nicht als gewollt und gegeben akzeptieren sollten, so wählt auch unser Gehirn gern zwischen verschiedenen Möglichkeiten aus und entscheidet sich für die leichteste, wenn ihm die Wahl gelassen wird. Dieses Prinzip widerspricht glücklicherweise auch dem, was uns irrtümlich oft vermittelt wird: Nur das, was wir uns unter Schmerzen und mit Anstrengung erwirtschaftet haben, darauf können wir stolz sein, wohingegen das, was uns scheinbar mühelos zufällt nicht zur Anerkennung berechtigt...!
Ein großer Teil der Arbeit, die nötig ist um Veränderungen und neue Verknüpfungen im Gehirn in Gang zu bringen, wird uns buchstäblich im Schlaf abgenommen. Das Gehirn verarbeitet die neuen Eindrücke nachts, wenn wir schlafen und so ist es manchmal ganz verwunderlich und überraschend, wenn es passiert, dass eine Bewegung innerhalb einer Lektion zu einem bestimmten Zeitpunkt noch Schwierigkeiten bereitete und wenig später ohne zusätzliches Üben plötzlich problemlos möglich ist.
Für den anderen Anteil, der zu einem erweiterten Bild von einer bestimmten Bewegung führen soll, müssen wir selbst aktiv werden, indem wir uns wiederholt mit dem entsprechenden Thema beschäftigen und uns somit auch geistig mit der Bewegung auseinandersetzen. Das sollte auf eine spielerische Art und Weise geschehen, erforschend und mit einer nicht bewertenden Offenheit.
Zurückkommend zum Gehirn und seinen Wahlmöglichkeiten kann man sagen,dass es die Wahl in dem Moment hat, in dem ihm verschiedene Möglichkeiten und Variationen der Bewegung zur Verfügung stehen. Und daran arbeiten wir, wenn wir uns in Gruppen treffen, um Bewusstheit durch Bewegung zu erleben.

Bitte sage etwas zu dem „Erfinder“ der Feldenkrais-Methode, Moshe Feldenkrais, wer war er, wie kam er auf diese Methode. Wie nimmst du ihn selbst wahr?

Moshe Feldenkrais (1904-1984) wurde in Russland geboren und wanderte von dort als Vierzehnjähriger allein nach Palästina aus. Er wurde Elektro- und Maschineningenieur, studierte in Paris Physik und promovierte auf diesem Gebiet. In Frankreich arbeitete er zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Joliot - Curie. Er erreichte als einer der ersten Europäer den schwarzen Gürtel im Judo und gründete den ersten Judo-Klub in Frankreich. Während des Krieges wurde er von der Französischen Regierung nach England geschickt, dort arbeitete er für die britische Admiralität. Nach dem Krieg ging er wieder nach Israel zurück und entwickelte während der darauffolgenden Jahre die später nach ihm benannte Methode. Er unterrichtete an verschiedenen Universitäten in Europa und Amerika Verhaltensphysiologie. Die Trainer, welche er persönlich in seiner Methode ausbildete, übernahmen seine Lehrmethode und entwickelten sie teilweise weiter.
Ich persönlich nehme Moshe Feldenkrais als einen Menschen wahr, der sich seiner Kraft und seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten durchaus bewusst war und der sie genutzt hat, um seine Vision von einer besseren Gesellschaft auf eine ganz praktische und für jeden Menschen verständliche und anwendbare Art und Weise umzusetzen. Seine Vision bestand unter anderem darin, die Art des Lernens grundsätzlich anders zu gestalten und dadurch die Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden Menschen zu erweitern.
Ein Satz von ihm soll verdeutlichen, was ich nur mit vielen Worten wiedergeben könnte:
Lernen kann Früchte tragen nur, wenn der ganze Mensch dabei bereit ist zu lächeln und dieses Lächeln jederzeit und unmittelbar in Lachen übergehen kann.
Ist das nicht großartig? Stellt euch vor, wie froh die Kinder zur Schule gehen würden in solch einer Atmosphäre der Großzügigkeit.
Neben seiner Genialität, die ihn in vielen Bereichen der Wissenschaft erfolgreich sein ließ, empfinde ich ihn beim Lesen seiner Werke als einen Menschen mit einem weiten Herzen und einer Liebe zu jeder Kreatur. Er vermittelte, dass alle Zwanghaftigkeit dem Wesen schadet und es vielmehr darum geht schöpferisches Handeln zu erlernen.
In einer Zeit, zu der die autoritäre und strenge Erziehung der Kinder gefordert und allgemein akzeptiert wurde, zeigte er auf, welchen Schaden Eltern ihren Kindern, welche gefühlsmäßig und wirtschaftlich von ihnen abhängig sind, zufügen, wenn sie sie in einer Atmosphäre der Angst vor Strafe aufwachsen lassen. Er unterstützte diesbezüglich mit seinen analytischen Erkenntnissen das schon beginnende Hinterfragen der gängigen Lehrmeinung zum Thema Erziehung.
Für mich zählt er zu den wirklich großen Geistern der Menschheit.


Literaturempfehlungen:
M. Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung
M. Feldenkrais: Das starke Selbst